Porsche Newsroom – Software, Chips und Batterien

Software, Chips und Batterien - Porsche

Heute wird ein modernes vollelektrisches Fahrzeug mit einer Vielzahl sogenannter elektronischer SteuergerÀte ausgestattet.

Nehmen wir das Jahr 1886 und Carl Benz. Er erfand den ersten Verbrennungsmotor fĂŒr das Auto. Oder schauen wir auf das Jahr 1912. Da fĂŒhrte Henry Ford die Fließbandfertigung im Automobilbau ein. Von welchem Datum wir auch immer ausgehen, es sind inzwischen mehr als 100 Jahre vergangen. Nun haben weltweit erstmals neue Akteure die BĂŒhne betreten und den bewĂ€hrten traditionellen Ansatz verworfen, zuerst ein Auto zu entwerfen, dann elektronische Komponenten hinzuzufĂŒgen und am Ende eine Software zu entwickeln, die vorgibt, all diese sehr unterschiedlichen Komponenten unter einer BenutzeroberflĂ€che zu vereinen. Damit steht die Automobilindustrie vor der wohl grĂ¶ĂŸten UmwĂ€lzung ihrer Geschichte.

Heute wird ein modernes vollelektrisches Fahrzeug mit einer Vielzahl sogenannter elektronischer SteuergerĂ€te ausgestattet. Die Funktionen dieser GerĂ€te reichen von der Entriegelung der TĂŒren bis hin zum autonomen Fahren. Und die elektronischen Bauteile stammen von verschiedensten Zulieferern. Es wird nicht nur immer schwieriger, all diese GerĂ€te in einer Softwareplattform zu vereinen, sondern auch, diese Plattform in angemessenen AbstĂ€nden mit vertretbaren Datenmengen zu aktualisieren. Es wird nicht ausreichen, diesen Prozess mit einem technisch-evolutionĂ€ren Ansatz zu begleiten.

Auf der Suche nach einem Begriff, der am besten beschreibt, was wirklich geschehen muss hilft ein Buch, das vor 61 Jahren vom bedeutenden Wissenschaftsphilosophen und ‑historiker Thomas Kuhn geschrieben wurde. Es hat den eher langweiligen Titel „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“. Darin hat Kuhn den Begriff geprĂ€gt, der so treffend und akkurat beschreibt, wie die „alte Automobilindustrie“ jetzt handeln muss, um bestehen zu können.

Der Begriff heißt: Paradigmenwechsel. Nach Kuhns Definition können sich durch ein neues Paradigma neue, aber relevante Fragen zu alten Daten stellen. Im Paradigmenwechsel betreibt man nicht nur „RĂ€tsellösen“ mit dem vorigen Paradigma, sondern Ă€ndert auch die Spielregeln und den „Arbeitsplan“, wie man zu neuen Lösungen kommt. Um die Grundlagen des Paradigmenwechsels zu erklĂ€ren, ließ Kuhn sein Publikum 10 Sekunden lang eine Ente betrachten 



 und sagte dann: Sie sehen keine Ente, Sie sehen einen Hasen von der Seite. Von diesem Moment an sah niemand mehr eine Ente, alle sahen einen Hasen. „Wir mĂŒssen dieselbe Sache aus einer neuen Perspektive betrachten.“ Übersetzt fĂŒr die Automobilindustrie heißt das: Sie muss die Dinge anders angehen.

Der Code ist das neue Spaltmaß

Die Hersteller mĂŒssen weg davon, das Auto zunĂ€chst mit einem perfekten Spaltmaß, also einem gleichmĂ€ĂŸigen Abstand zwischen den Blechen an der Außenseite des Fahrzeugs, zu konstruieren, dann eine schier endlose Anzahl von SteuergerĂ€ten hinzuzufĂŒgen, um dann zu versuchen, die passende Software zu schreiben. Die Softwareentwicklung muss stattdessen an erster Stelle stehen. Oder mit anderen Worten: „Tadelloser Code ist das neue Spaltmaß.“ Dieser neue Ansatz fĂŒr die Automobilindustrie hat einen Namen: das Software-Defined Vehicle oder kurz SDV.

Warum ist das alles notwendig? Viele der neuen Akteure haben bewiesen, dass sich mit einem softwarezentrierten Ansatz die Software, die sich normalerweise schneller weiterentwickelt, einfacher von der sich langsamer entwickelnden Hardware trennen lĂ€sst. Gleichzeitig steigert man die FlexibilitĂ€t beim Austausch von Hardware. Die neuen Regeln fĂŒr das SDV-Paradigma nach Thomas Kuhn lauten deshalb wie folgt: ErlĂ€utere die Prinzipien. ErgĂ€nze das um die Anwendererfahrungen und die FĂ€higkeit, eine gefundene Lösung auch sofort einzusetzen.

Ein großartiges Beispiel, um den Einfluss von Anwendererfahrungen zu veranschaulichen, stammt von Tesla: Kunden beschwerten sich regelmĂ€ĂŸig darĂŒber, dass sie ihre Hunde nicht im Auto lassen konnten, wenn sie einkaufen gingen, weil es im Auto zu heiß fĂŒr den Hund wurde oder andere Leute auf die Besitzer zukamen und sie dafĂŒr beschimpften, dass sie ihren Hund in einem ĂŒberhitzten Auto zurĂŒckließen. Deshalb hat Tesla den DOG-Modus eingefĂŒhrt. Wenn dieser Modus aktiviert ist, werden die Fenster heruntergelassen, damit der Hund Luft bekommt, wĂ€hrend auf dem zentralen Display fĂŒr jeden sichtbar die Meldung „Mir geht es gut. Mein Besitzer ist gerade einkaufen und kommt bald zurĂŒck“ erscheint.

Aber Software lĂ€uft immer auf Hardware. Hier kommt die Halbleiterindustrie ins Spiel. Ebenso wie fĂŒr das Schreiben guter Autosoftware setzt man auch fĂŒr Hardware und die Chip-Architektur auf bewĂ€hrte Verfahren. Fachleute nennen dies die elektrische und elektronische Architektur oder kurz E/E‑Architektur. Es ist die softwarebasierte E/E‑Architektur, die das Software-Defined Vehicle erst möglich macht.

Die wichtigsten Voraussetzungen fĂŒr das Software-Defined Vehicle werden in der Halbleiterindustrie geschaffen. In einem modernen batteriebetriebenen Fahrzeug kommen mehrere tausend Chips zum Einsatz. Wenn wir das mit den etwa 60 hoch individualisierten Chips in einem Apple iPhone vergleichen, sehen wir, dass wir davon noch weit entfernt sind. Vielleicht ließe es sich schaffen, die Anzahl der SteuergerĂ€te auf etwa ein FĂŒnftel zu reduzieren, jedoch mit einem höheren Anteil an kundenspezifischen Chips. Aber wieso sollte man sich diese MĂŒhe ĂŒberhaupt machen? Weil die Digitalisierung und die Elektrifizierung den Bedarf nach Chips in Autos weiter vorantreiben werden. Die Automobilindustrie ist die Branche, fĂŒr die die Halbleiterindustrie in den nĂ€chsten Jahren am schnellsten wachsen muss. Und die Automobilhersteller brauchen mehr direkte Partnerschaften mit der Halbleiterindustrie, um dieses Wachstum zu bewerkstelligen.

Direkte Partnerschaften mit der Halbleiterindustrie

Ein passendes Beispiel stammt aus der Mobilfunkbranche: Durch eine besonders enge Zusammenarbeit mit der Halbleiterindustrie und die Direktvermarktung konnten die Telefonhersteller von einem „standardisierten“ Ansatz nach dem Vorbild Nokias zu dem ĂŒbergehen, was wir heute in einem modernen iPhone von Apple sehen. Eine höhere Geschwindigkeit und FlexibilitĂ€t im Entwicklungsprozess, nicht zu unterschĂ€tzende Kosteneinsparungen und die Möglichkeit, die verfĂŒgbare Chiptechnologie in Funktionen umzusetzen, fĂŒr die Verbraucher bereit sind zu zahlen. Alles das sind einige der Vorteile, die sich aus einer direkten Partnerschaft zwischen der Halbleiter- und der Automobilindustrie ergeben. Aber es gibt auch einige Unterschiede. Die Automobilindustrie braucht vor allem Chips, die unter sehr anspruchsvollen Bedingungen „autotauglich“ sind. DafĂŒr gilt es, Transparenz zu schaffen und strategische Investitionen in Technologien zu tĂ€tigen, nach denen der Markt verlangt.

Es bedarf erheblicher Anstrengungen aller Automobilhersteller, sich auf den Paradigmenwechsel vorzubereiten und sich ihm zu stellen. Aus diesem Grund hat die Managementberatung Porsche Consulting das Strategic Semiconductor Management Framework entwickelt. Das Modell hilft Unternehmen, umfassendes Know-how im Bereich Halbleiter zu erlangen und sich gleichzeitig die Auswirkungen der Halbleiterbeschaffung zu vergegenwĂ€rtigen. Dies wiederum hilft, eine langfristige Strategie fĂŒr Halbleiter zu entwickeln. Und es erleichtert den Austausch mit der Halbleiterindustrie, wenn man sich auf eine Sprache einigt, die beide Seiten verstehen. Dieses Modell findet in vielen unterschiedlichen Branchen Anwendung, da eine Halbleiterstrategie nicht nur in der Automobilbranche dringend erforderlich ist. Es ist jedoch die Automobilindustrie, die vor den grĂ¶ĂŸten Herausforderungen steht.

Es ist nun an der Zeit, dass die Automobil- und die Halbleiterindustrie noch enger zusammenarbeiten. FĂŒr die Automobilindustrie werden drei GrĂ¶ĂŸen bestimmen, ob sie wettbewerbsfĂ€hig ist: Software, Chips und Batterien. In diesen drei Disziplinen wollen die Automobilhersteller fĂŒhrend sein. Das heißt nicht, dass sie nur ihre eigenen Chips fertigen wollen. Sie mĂŒssen mit der Halbleiterindustrie jedoch in einer Weise zusammenarbeiten, die zu besseren Endprodukten fĂŒhrt.

Über den Autor

Dr. Hagen Radowski, Senior Partner bei der Managementberatung Porsche Consulting, blickt auf mehr als zwei Jahrzehnte Erfahrung in der IT-Branche. Er promovierte im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der UniversitĂ€t Siegen. Nach Studien der Wirtschaftsinformatik in Stuttgart (BA) und der Betriebswirtschaftslehre in den USA (MBA) sowie Stationen bei Procter & Gamble und Otis AufzĂŒge war er 14 Jahre als GeschĂ€ftsfĂŒhrer bei einem internationalen IT- und Engineering-Beratungsunternehmen tĂ€tig. Danach folgten sieben Jahre fĂŒr die Management- und IT-Beratung MHP als Partner sowie CEO der Tochtergesellschaft MHP Americas. Radowski gehört Porsche Consulting seit Oktober 2019 an, zunĂ€chst als President und CEO der US-Tochtergesellschaft Porsche Consulting, Inc. in Atlanta. Jetzt verantwortet er die internationalen Beratungsmandate im Bereich Halbleiter und die Betreuung der Volkswagen-Softwaretochter CARIAD.

ĂŒbermittelt durch Porsche

 

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