![Hochautomatisiertes Fahren](https://i0.wp.com/www.meinmobilemagazin.de/wp-content/uploads/2023/11/1699335764_Hochautomatisiertes-Fahren-simuliert-und-variiert-durch-AVEAS.jpg?resize=700%2C395&ssl=1)
Heute verhindert der Fahrer meist das Schlimmste, indem er bremst oder ausweicht. Das autonom fahrende Fahrzeug von morgen muss in kritischen Momenten ebenfalls sicher reagieren.
Ein Fahrzeug ĂŒberholt und schert mit zu geringem Abstand wieder ein â in solchen Momenten kommt es oft zu BeinaheunfĂ€llen. Heute verhindert der Fahrer meist das Schlimmste, indem er bremst oder ausweicht. Das autonom fahrende Fahrzeug von morgen muss in kritischen Momenten ebenfalls sicher reagieren, weshalb Porsche Engineering sie heute schon intensiv in Simulationen durchspielt.
Automatische Erfassung: JUPITER-Versuchsfahrzeuge von Porsche Engineering liefern Video-, Radar- und Lidar-Daten realer Verkehrssituationen.
Dabei erhöhen die Ingenieure gezielt die KritikalitĂ€t, zum Beispiel indem sie den Abstand zwischen den Fahrzeugen verringern. âWir bauen einen vollstĂ€ndigen Katalog von kritischen Szenarien auf, mit dem wir Fahrerassistenzsysteme und Funktionen fĂŒr das hochautomatisierte Fahren absichern könnenâ, erklĂ€ren Dr. Joachim Schaper, Leiter KI und Big Data bei Porsche Engineering und Tille Karoline Rupp, Verantwortliche fĂŒr Simulation bei Porsche Engineering.
âWir entwickeln gerade ein Verfahren, das Verkehrsteilnehmer auch dann wiedererkennt, wenn sie lĂ€nger nicht zu sehen waren.â
Leon Eisemann Doktorand und Spezialist fĂŒr Bilderkennung bei Porsche Engineering
Die virtuellen Tests sind Teil des Forschungsprojektes AVEAS (Absicherungsrelevante Verkehrssituationen erheben, analysieren, simulieren), an dem neben Porsche Engineering weitere 20 Partner beteiligt sind, darunter mehrere Fraunhofer-Institute und das Karlsruher Unternehmen understand.ai.
Simulierbare Szenarien
AVEAS will eine groĂe HĂŒrde auf dem Weg zum autonomen Fahren beseitigen: fehlende Daten. Um Funktionen fĂŒr das hochautomatisierte Fahren abzusichern, mĂŒssten theoretisch Milliarden von Testkilometern gefahren werden. Weil dies einen enormen zeitlichen und finanziellen Aufwand darstellen wĂŒrde, ergĂ€nzt man die realen Fahrten durch Fahrten in der Simulation. Doch das ist gerade bei kritischen Verkehrssituationen schwierig, da es an realen Basisdaten fĂŒr die Simulation mangelt â schlieĂlich kommt es im normalen Verkehrsgeschehen selten zu Grenzsituationen. Diese LĂŒcke soll AVEAS schlieĂen. Ziel des Projekts ist es, Testfahrten automatisiert auszuwerten und die kritischen Verkehrssituationen als simulierbare Szenarien aufzubereiten.
Porsche Engineering steuert dazu einige entscheidende Bausteine bei. FĂŒr dieTestfahrten wird zum Beispiel ein JUPITER-Versuchsfahrzeug (Joint User Personalized Integrated Testing and Engineering Resource) zur VerfĂŒgung gestellt. Es ist mit Kameras, Radar- und Lidar-Sensoren ausgestattet und ĂŒbertrĂ€gt seine Messdaten in die Cloud. Auch die Auswertung ĂŒbernimmt Porsche Engineering: Algorithmen erfassen automatisch den StraĂenverlauf, die Position der anderen Verkehrsteilnehmer und ihr Verhalten. Die dabei eingesetzten Machine-Learning-Methoden werden stĂ€ndig verfeinert. âWir entwickeln gerade ein Verfahren, das Verkehrsteilnehmer auch dann wiedererkennt, wenn sie lĂ€nger nicht zu sehen waren, zum Beispiel, weil ein Lkw sie verdeckt hatâ, sagt Leon Eisemann, Doktorand und Spezialist fĂŒr Bilderkennung bei Porsche Engineering.
Das erfasste Verkehrsgeschehen wird in standardisierten Dateiformaten wie ASAM OpenDRIVE (logische Beschreibung des StraĂennetzes) oder ASAM OpenLABEL (Objekte und deren Dynamik) gespeichert. So kann AVEAS auch Input fĂŒr andere Projekte liefern, wie beispielsweise die Streckenmodellierung. In einem zweiten Schritt wĂ€hlen Algorithmen die kritischen Verkehrssituationen aus, indem sie zum Beispiel auf geringe AbstĂ€nde oder starke VerzögerungskrĂ€fte achten.
âWir bauen einen vollstĂ€ndigen Katalog von kritischen Szenarien auf, mit dem wir Fahrerassistenzsysteme und Funktionen fĂŒr das hochautomatisierte Fahren absichern können.â
Dr. Joachim Schaper Leiter KI und Big Data bei Porsche Engineering und Tille Karoline Rupp Verantwortliche fĂŒr Simulation bei Porsche Engineering
âWobei das relevante KritikalitĂ€tsmaĂ immer von der Fahrfunktion abhĂ€ngt, die spĂ€ter getestet werden sollâ, betont Nicole Neis, Doktorandin im Bereich Simulation bei Porsche Engineering. Soll zum Beispiel ein automatischer Abstandstempomat (Adaptive Cruise Control, ACC) abgesichert werden, wĂ€re eine scharfe Bremsung vor einem Stauende ein relevantes kritisches Szenario. Auch Umgebungsfaktoren können kritische Szenarien auslösen. NĂ€hert sich das Fahrzeug zum Beispiel einem Tunnelende, blendet das Gegenlicht möglicherweise die Bordkameras.
Solche Verkehrssituationen markiert der Auswahlalgorithmus ebenfalls, damit sie fĂŒr die Absicherung von Fahrfunktionen verwendet werden können â schlieĂlich soll das autonome Fahrzeug spĂ€ter so besonnen reagieren wie ein menschlicher Fahrer, etwa indem es die Geschwindigkeit verringert oder andere Sensoren priorisiert. ZunĂ€chst bestehen die (simulierbaren) Fahrszenarien aus den Positionsdaten der Verkehrsteilnehmer im Zeitverlauf; Experten sprechen von einer âtrajektorienbasiertenâ Beschreibung. Um ein Fahrszenario spĂ€ter in der Simulation variieren zu können, muss es abstrakt beschrieben werden â also âmanöverbasiertâ. DafĂŒr leitet man aus den individuellen Trajektorien Meta-VorgĂ€nge ab, zum Beispiel âFahrzeug stoppt an der Kreuzung und fĂ€hrt wieder anâ. Dieses Szenario lĂ€sst sich dann an einem beliebigen Startpunkt in eine virtuelle Strecke einfĂŒgen und verĂ€ndern.
Erweiterung des Testraums
Die virtuellen Testfahrten finden in der intern entwickelten Simulationsumgebung statt, dem sogenannten PEVATeC SimFramework (Porsche Engineering Virtual ADAS Testing Center Simulation Framework). In der digitalen Welt lĂ€sst sich die reale Fahrt nachstellen (resimulieren) und dann gezielt verĂ€ndert durchspielen. âBei diesem sogenannten Szenario-Sampling werden die realen kritischen Situationen systematisch modifiziert und somit der virtuelle Absicherungstestraum kĂŒnstlich erweitertâ, erklĂ€rt Rupp.
âDas relevante KritikalitĂ€tsmaĂ hĂ€ngt immer von der Fahrfunktion ab, die spĂ€ter getestet werden soll.â
Nicole Neis Doktorandin im Bereich Simulation bei Porsche Engineering
Ein Einschervorgang etwa lĂ€sst sich viele Tausend Mal mit unterschiedlichen Parametern wiederholen: mit einer höheren Einschergeschwindigkeit, einem zeitlich kĂŒrzeren Abstand (Time Headway) oder widrigen Umweltbedingungen wie einer nassen StraĂe. Durch diese gezielte Variation der Parameter lassen sich auch Testszenarien erschaffen, die allein aus SicherheitsgrĂŒnden real nicht gefahren werden können â man denke an eine Vollbremsung vor einem Stauende.
Im letzten Schritt werden die synthetischen Grenzszenarien verwendet, um die gewĂŒnschte Fahrfunktion abzusichern und zu optimieren. DafĂŒr konstruiert Porsche Engineering einen digitalen Zwilling des JUPITER-Testfahrzeugs. âDer âDigital JUPITERâ verfĂŒgt ĂŒber die gleichen Schnittstellen und Sensoren wie das echte Fahrzeugâ, erklĂ€rt David Hermann, Doktorand und Fachprojektingenieur im Bereich Simulation bei Porsche Engineering. âAlle Funktionen lassen sich eins zu eins testen.â Porsche Engineering wird den Digitalen JUPITER nutzen, um im Rahmen von AVEAS einen Abstandstempomaten und eine Einparkfunktion (Reverse Assist) zu evaluieren und optimieren.
Erste Patente angemeldet
Damit reale und virtuelle Testfahrt wirklich deckungsgleich sind, braucht es viel Erfahrung â auch in der analogen Welt. âGefragt ist ein tiefes VerstĂ€ndnis dafĂŒr, wie reale Technik und Simulation zusammenhĂ€ngenâ, betont Schaper. Ein virtuelles Fahrzeug muss zum Beispiel wie das analoge Vorbild auf verschiedene FahrbahnoberflĂ€chen reagieren. Das im Dezember 2021 gestartete Projekt hat schon erste Ergebnisse geliefert. âViele Glieder der Prozesskette sind vorhanden, die Versuchsfahrten laufen, einige Patente sind bereits angemeldetâ, sagt Michael Strobelt, der die Beteiligung von Porsche Engineering an AVEAS koordiniert. Allerdings bringt die Grundlagenarbeit auch Herausforderungen mit sich. âDie RealitĂ€t in ihrer hohen VariabilitĂ€t abbilden zu können, ist anspruchsvollâ, betont Doktorand Eisemann. Erkennungsalgorithmen mĂŒssten zum Beispiel Fahrzeuge aus aller Welt identifizieren können â nicht nur deutsche. âAuĂerdem spielt das Schnittstellenmanagement eine groĂe Rolleâ, ergĂ€nzt Doktorandin Neis.
Da die AVEAS-Partner Daten aus unterschiedlichen Quellen beitragen, ist fĂŒr den Austausch eine genaue Abstimmung nötig. Das Karlsruher Institut fĂŒr Technologie liefert zum Beispiel Luftbilder von StraĂen, die ebenfalls in die Konstruktion der digitalen Szenarien einflieĂen sollen. AVEAS lĂ€uft noch bis Ende 2024. Dann soll eine skalierbare Pipeline fĂŒr die Auswertung von Fahrszenarien stehen â und ein Katalog mit vielen Hunderttausend kritischen Szenarien. Beides könnte die Entwicklungsarbeit in Zukunft stark beschleunigen. Rupp beschreibt die langfristige Vision so: âSchon wĂ€hrend der Messfahrt werden Szenarien generiert und sofort in der Simulation zur Optimierung der Fahrfunktion verwendet.â Nach der Absicherung könnte dann ein entsprechendes Update Over-the-Air ins Fahrzeug ĂŒbertragen werden.
Streckenmodellierung – PrĂ€zises Abbild der Welt
FĂŒr Simulationen wird eine Welt benötigt, in der sich die Verkehrsteilnehmer bewegen und mit der sie interagieren können. âDiese Streckenmodelle sind ein grundlegender Bestandteil jeder ADAS/AD-Simulation â ohne Streckenmodell kein virtueller Fahrversuchâ, sagt Tille Karoline Rupp, Verantwortliche fĂŒr Simulation bei Porsche Engineering. Streckenmodelle, im Fachjargon Szene genannt, beschreiben sowohl den Fahrbereich (StraĂe, Parkraum) als auch die Umgebung. Sie bestehen aus einem mathematischen Modell des StraĂennetzes im OpenDRIVE-Format und einem 3D-Modell, das exakt Aussehen und Material der Objekte beschreibt. Digitale Karten, wie sie kommerzielle Navigationssysteme nutzen, sind dafĂŒr nicht prĂ€zise und detailliert genug. âEs fehlen zum Beispiel Informationen ĂŒber Breite der Spuren und Fahrbahnmarkierungenâ, erklĂ€rt Tobias Watzl, Entwicklungsingenieur im Bereich Simulation und verantwortlich fĂŒr die Streckenmodellierung. Je nach Aufgabe werden hochauflösende Karten, frei verfĂŒgbare OpenStreetMap-Karten, Höhenmodelle und vieles mehr kombiniert.
âUm die Vielzahl an benötigten Testkilometern in einem angemessenen Zeitrahmen virtuell abbilden zu können, arbeiten wir an einem eigenen, hochgradig automatisierten Streckenmodellierungsprozessâ, ergĂ€nzt Rupp. Hierbei wird der Automatisierungsgrad im Erstellungsprozess stetig erhöht. Im Rahmen des AVEAS-Projektes speisen die eingesetzten JUPITER-Versuchsfahrzeuge Messdaten in den Streckenmodellierungsprozess ein. Sie tasten mit ihren Lidar-Sensoren die Umgebung ab und ĂŒbertragen die resultierenden Punktwolken in die Cloud. Da Fahrbahnmarkierungen ein anderes Reflexionsverhalten haben als Asphalt, lassen sie sich in den Lidar-Daten gut identifizieren. Spezielle Algorithmen berechnen aus den Einzelmarkierungen eine durchgehende Gesamtlinie (dieser Prozess funktioniert auch, wenn einzelne Markierungen fehlen). Das Ergebnis ist ein prĂ€zises âgeoreferenziertesâ Abbild einer echten StraĂe im OpenDRIVE-Format. Dem stehen âgenerischeâ Streckenmodelle gegenĂŒber, die kein reales Vorbild haben (Beispiel: zehn Kilometer zweispurige Autobahn). Die Streckenmodellierung erfordert hohe PrĂ€zision. Die ermittelte StraĂengeometrie muss auf den Zentimeter genau sein, sonst wĂŒrden zum Beispiel die FahrzeugabstĂ€nde bei simulierten Spurwechseln spĂ€ter nicht stimmen. Eine Herausforderung: Da StraĂen im OpenDRIVE-Format als mathematische Funktionen beschrieben sind, können Sprungstellen entstehen, die in der Simulation als âKnickâ in der StraĂe erscheinen wĂŒrden. Solche Punkte mĂŒssen interpoliert werden. âDer digitale Zwilling fĂ€hrt eine Strecke oft mehrere Hunderttausend Mal â da muss jedes Detail stimmenâ, betont Watzl.
Zusammengefasst
Porsche Engineering arbeitet im Forschungsprojekt AVEAS mit Partnern daran, kritische Verkehrssituationen mit KI-Hilfe automatisiert in Sensordaten zu erkennen und in einer Datenbank abzulegen. Sie werden zudem variiert, um mehr TestfĂ€lle zu erzeugen. Danach werden die Szenen in eine Simulation ĂŒberfĂŒhrt und dienen dazu, Fahrerassistenzsysteme und Funktionen fĂŒr das hochautomatisierte Fahren abzusichern.