Hochautomatisiertes Fahren simuliert und variiert durch AVEAS

Hochautomatisiertes Fahren

Heute verhindert der Fahrer meist das Schlimmste, indem er bremst oder ausweicht. Das autonom fahrende Fahrzeug von morgen muss in kritischen Momenten ebenfalls sicher reagieren.

Ein Fahrzeug ĂŒberholt und schert mit zu geringem Abstand wieder ein – in solchen Momenten kommt es oft zu BeinaheunfĂ€llen. Heute verhindert der Fahrer meist das Schlimmste, indem er bremst oder ausweicht. Das autonom fahrende Fahrzeug von morgen muss in kritischen Momenten ebenfalls sicher reagieren, weshalb Porsche Engineering sie heute schon intensiv in Simulationen durchspielt.

Automatische Erfassung: JUPITER-Versuchsfahrzeuge von Porsche Engineering liefern Video-, Radar- und Lidar-Daten realer Verkehrssituationen.

2023, Porsche AG
Virtuelle Testfahrten: Im PEVATeC-Simulationsframework können die Entwickler die realen Fahrten nachstellen.
2023, Porsche AG
Endlose Möglichkeiten: Kritische Situationen wie ein Einschervorgang lassen sich in der Simulation Tausende Male mit verschiedenen Parametern durchspielen.
2023, Porsche AG
Automatische Analyse: Algorithmen erfassen den Straßenverlauf, die Position der Verkehrsteilnehmer und ihr Verhalten. Dabei werden kritische Situationen wie eine scharfe Bremsung erkannt.

Dabei erhöhen die Ingenieure gezielt die KritikalitĂ€t, zum Beispiel indem sie den Abstand zwischen den Fahrzeugen verringern. „Wir bauen einen vollstĂ€ndigen Katalog von kritischen Szenarien auf, mit dem wir Fahrerassistenzsysteme und Funktionen fĂŒr das hochautomatisierte Fahren absichern können“, erklĂ€ren Dr. Joachim Schaper, Leiter KI und Big Data bei Porsche Engineering und Tille Karoline Rupp, Verantwortliche fĂŒr Simulation bei Porsche Engineering.

„Wir entwickeln gerade ein Verfahren, das Verkehrsteilnehmer auch dann wiedererkennt, wenn sie lĂ€nger nicht zu sehen waren.“
Leon Eisemann Doktorand und Spezialist fĂŒr Bilderkennung bei Porsche Engineering

Die virtuellen Tests sind Teil des Forschungsprojektes AVEAS (Absicherungsrelevante Verkehrssituationen erheben, analysieren, simulieren), an dem neben Porsche Engineering weitere 20 Partner beteiligt sind, darunter mehrere Fraunhofer-Institute und das Karlsruher Unternehmen understand.ai.

Simulierbare Szenarien

AVEAS will eine große HĂŒrde auf dem Weg zum autonomen Fahren beseitigen: fehlende Daten. Um Funktionen fĂŒr das hochautomatisierte Fahren abzusichern, mĂŒssten theoretisch Milliarden von Testkilometern gefahren werden. Weil dies einen enormen zeitlichen und finanziellen Aufwand darstellen wĂŒrde, ergĂ€nzt man die realen Fahrten durch Fahrten in der Simulation. Doch das ist gerade bei kritischen Verkehrssituationen schwierig, da es an realen Basisdaten fĂŒr die Simulation mangelt – schließlich kommt es im normalen Verkehrsgeschehen selten zu Grenzsituationen. Diese LĂŒcke soll AVEAS schließen. Ziel des Projekts ist es, Testfahrten automatisiert auszuwerten und die kritischen Verkehrssituationen als simulierbare Szenarien aufzubereiten.

Porsche Engineering steuert dazu einige entscheidende Bausteine bei. FĂŒr dieTestfahrten wird zum Beispiel ein JUPITER-Versuchsfahrzeug (Joint User Personalized Integrated Testing and Engineering Resource) zur VerfĂŒgung gestellt. Es ist mit Kameras, Radar- und Lidar-Sensoren ausgestattet und ĂŒbertrĂ€gt seine Messdaten in die Cloud. Auch die Auswertung ĂŒbernimmt Porsche Engineering: Algorithmen erfassen automatisch den Straßenverlauf, die Position der anderen Verkehrsteilnehmer und ihr Verhalten. Die dabei eingesetzten Machine-Learning-Methoden werden stĂ€ndig verfeinert. „Wir entwickeln gerade ein Verfahren, das Verkehrsteilnehmer auch dann wiedererkennt, wenn sie lĂ€nger nicht zu sehen waren, zum Beispiel, weil ein Lkw sie verdeckt hat“, sagt Leon Eisemann, Doktorand und Spezialist fĂŒr Bilderkennung bei Porsche Engineering.

Das erfasste Verkehrsgeschehen wird in standardisierten Dateiformaten wie ASAM OpenDRIVE (logische Beschreibung des Straßennetzes) oder ASAM OpenLABEL (Objekte und deren Dynamik) gespeichert. So kann AVEAS auch Input fĂŒr andere Projekte liefern, wie beispielsweise die Streckenmodellierung. In einem zweiten Schritt wĂ€hlen Algorithmen die kritischen Verkehrssituationen aus, indem sie zum Beispiel auf geringe AbstĂ€nde oder starke VerzögerungskrĂ€fte achten.

„Wir bauen einen vollstĂ€ndigen Katalog von kritischen Szenarien auf, mit dem wir Fahrerassistenzsysteme und Funktionen fĂŒr das hochautomatisierte Fahren absichern können.“
Dr. Joachim Schaper Leiter KI und Big Data bei Porsche Engineering und Tille Karoline Rupp Verantwortliche fĂŒr Simulation bei Porsche Engineering

„Wobei das relevante KritikalitĂ€tsmaß immer von der Fahrfunktion abhĂ€ngt, die spĂ€ter getestet werden soll“, betont Nicole Neis, Doktorandin im Bereich Simulation bei Porsche Engineering. Soll zum Beispiel ein automatischer Abstandstempomat (Adaptive Cruise Control, ACC) abgesichert werden, wĂ€re eine scharfe Bremsung vor einem Stauende ein relevantes kritisches Szenario. Auch Umgebungsfaktoren können kritische Szenarien auslösen. NĂ€hert sich das Fahrzeug zum Beispiel einem Tunnelende, blendet das Gegenlicht möglicherweise die Bordkameras.

Solche Verkehrssituationen markiert der Auswahlalgorithmus ebenfalls, damit sie fĂŒr die Absicherung von Fahrfunktionen verwendet werden können – schließlich soll das autonome Fahrzeug spĂ€ter so besonnen reagieren wie ein menschlicher Fahrer, etwa indem es die Geschwindigkeit verringert oder andere Sensoren priorisiert. ZunĂ€chst bestehen die (simulierbaren) Fahrszenarien aus den Positionsdaten der Verkehrsteilnehmer im Zeitverlauf; Experten sprechen von einer „trajektorienbasierten“ Beschreibung. Um ein Fahrszenario spĂ€ter in der Simulation variieren zu können, muss es abstrakt beschrieben werden – also „manöverbasiert“. DafĂŒr leitet man aus den individuellen Trajektorien Meta-VorgĂ€nge ab, zum Beispiel „Fahrzeug stoppt an der Kreuzung und fĂ€hrt wieder an“. Dieses Szenario lĂ€sst sich dann an einem beliebigen Startpunkt in eine virtuelle Strecke einfĂŒgen und verĂ€ndern.

Erweiterung des Testraums

Die virtuellen Testfahrten finden in der intern entwickelten Simulationsumgebung statt, dem sogenannten PEVATeC SimFramework (Porsche Engineering Virtual ADAS Testing Center Simulation Framework). In der digitalen Welt lĂ€sst sich die reale Fahrt nachstellen (resimulieren) und dann gezielt verĂ€ndert durchspielen. „Bei diesem sogenannten Szenario-Sampling werden die realen kritischen Situationen systematisch modifiziert und somit der virtuelle Absicherungstestraum kĂŒnstlich erweitert“, erklĂ€rt Rupp.

„Das relevante KritikalitĂ€tsmaß hĂ€ngt immer von der Fahrfunktion ab, die spĂ€ter getestet werden soll.“
Nicole Neis Doktorandin im Bereich Simulation bei Porsche Engineering

Ein Einschervorgang etwa lĂ€sst sich viele Tausend Mal mit unterschiedlichen Parametern wiederholen: mit einer höheren Einschergeschwindigkeit, einem zeitlich kĂŒrzeren Abstand (Time Headway) oder widrigen Umweltbedingungen wie einer nassen Straße. Durch diese gezielte Variation der Parameter lassen sich auch Testszenarien erschaffen, die allein aus SicherheitsgrĂŒnden real nicht gefahren werden können – man denke an eine Vollbremsung vor einem Stauende.

Im letzten Schritt werden die synthetischen Grenzszenarien verwendet, um die gewĂŒnschte Fahrfunktion abzusichern und zu optimieren. DafĂŒr konstruiert Porsche Engineering einen digitalen Zwilling des JUPITER-Testfahrzeugs. „Der ‚Digital JUPITER‘ verfĂŒgt ĂŒber die gleichen Schnittstellen und Sensoren wie das echte Fahrzeug“, erklĂ€rt David Hermann, Doktorand und Fachprojektingenieur im Bereich Simulation bei Porsche Engineering. „Alle Funktionen lassen sich eins zu eins testen.“ Porsche Engineering wird den Digitalen JUPITER nutzen, um im Rahmen von AVEAS einen Abstandstempomaten und eine Einparkfunktion (Reverse Assist) zu evaluieren und optimieren.

Erste Patente angemeldet

Damit reale und virtuelle Testfahrt wirklich deckungsgleich sind, braucht es viel Erfahrung – auch in der analogen Welt. „Gefragt ist ein tiefes VerstĂ€ndnis dafĂŒr, wie reale Technik und Simulation zusammenhĂ€ngen“, betont Schaper. Ein virtuelles Fahrzeug muss zum Beispiel wie das analoge Vorbild auf verschiedene FahrbahnoberflĂ€chen reagieren. Das im Dezember 2021 gestartete Projekt hat schon erste Ergebnisse geliefert. „Viele Glieder der Prozesskette sind vorhanden, die Versuchsfahrten laufen, einige Patente sind bereits angemeldet“, sagt Michael Strobelt, der die Beteiligung von Porsche Engineering an AVEAS koordiniert. Allerdings bringt die Grundlagenarbeit auch Herausforderungen mit sich. „Die RealitĂ€t in ihrer hohen VariabilitĂ€t abbilden zu können, ist anspruchsvoll“, betont Doktorand Eisemann. Erkennungsalgorithmen mĂŒssten zum Beispiel Fahrzeuge aus aller Welt identifizieren können – nicht nur deutsche. „Außerdem spielt das Schnittstellenmanagement eine große Rolle“, ergĂ€nzt Doktorandin Neis.

Da die AVEAS-Partner Daten aus unterschiedlichen Quellen beitragen, ist fĂŒr den Austausch eine genaue Abstimmung nötig. Das Karlsruher Institut fĂŒr Technologie liefert zum Beispiel Luftbilder von Straßen, die ebenfalls in die Konstruktion der digitalen Szenarien einfließen sollen. AVEAS lĂ€uft noch bis Ende 2024. Dann soll eine skalierbare Pipeline fĂŒr die Auswertung von Fahrszenarien stehen – und ein Katalog mit vielen Hunderttausend kritischen Szenarien. Beides könnte die Entwicklungsarbeit in Zukunft stark beschleunigen. Rupp beschreibt die langfristige Vision so: „Schon wĂ€hrend der Messfahrt werden Szenarien generiert und sofort in der Simulation zur Optimierung der Fahrfunktion verwendet.“ Nach der Absicherung könnte dann ein entsprechendes Update Over-the-Air ins Fahrzeug ĂŒbertragen werden.

Streckenmodellierung – PrĂ€zises Abbild der Welt

FĂŒr Simulationen wird eine Welt benötigt, in der sich die Verkehrsteilnehmer bewegen und mit der sie interagieren können. „Diese Streckenmodelle sind ein grundlegender Bestandteil jeder ADAS/AD-Simulation – ohne Streckenmodell kein virtueller Fahrversuch“, sagt Tille Karoline Rupp, Verantwortliche fĂŒr Simulation bei Porsche Engineering. Streckenmodelle, im Fachjargon Szene genannt, beschreiben sowohl den Fahrbereich (Straße, Parkraum) als auch die Umgebung. Sie bestehen aus einem mathematischen Modell des Straßennetzes im OpenDRIVE-Format und einem 3D-Modell, das exakt Aussehen und Material der Objekte beschreibt. Digitale Karten, wie sie kommerzielle Navigationssysteme nutzen, sind dafĂŒr nicht prĂ€zise und detailliert genug. „Es fehlen zum Beispiel Informationen ĂŒber Breite der Spuren und Fahrbahnmarkierungen“, erklĂ€rt Tobias Watzl, Entwicklungsingenieur im Bereich Simulation und verantwortlich fĂŒr die Streckenmodellierung. Je nach Aufgabe werden hochauflösende Karten, frei verfĂŒgbare OpenStreetMap-Karten, Höhenmodelle und vieles mehr kombiniert.

 

Tille Karoline Rupp, 2023, Porsche AG
Tille Karoline Rupp, Verantwortliche fĂŒr Simulation bei Porsche Engineering

„Um die Vielzahl an benötigten Testkilometern in einem angemessenen Zeitrahmen virtuell abbilden zu können, arbeiten wir an einem eigenen, hochgradig automatisierten Streckenmodellierungsprozess“, ergĂ€nzt Rupp. Hierbei wird der Automatisierungsgrad im Erstellungsprozess stetig erhöht. Im Rahmen des AVEAS-Projektes speisen die eingesetzten JUPITER-Versuchsfahrzeuge Messdaten in den Streckenmodellierungsprozess ein. Sie tasten mit ihren Lidar-Sensoren die Umgebung ab und ĂŒbertragen die resultierenden Punktwolken in die Cloud. Da Fahrbahnmarkierungen ein anderes Reflexionsverhalten haben als Asphalt, lassen sie sich in den Lidar-Daten gut identifizieren. Spezielle Algorithmen berechnen aus den Einzelmarkierungen eine durchgehende Gesamtlinie (dieser Prozess funktioniert auch, wenn einzelne Markierungen fehlen). Das Ergebnis ist ein prĂ€zises „georeferenziertes“ Abbild einer echten Straße im OpenDRIVE-Format. Dem stehen „generische“ Streckenmodelle gegenĂŒber, die kein reales Vorbild haben (Beispiel: zehn Kilometer zweispurige Autobahn). Die Streckenmodellierung erfordert hohe PrĂ€zision. Die ermittelte Straßengeometrie muss auf den Zentimeter genau sein, sonst wĂŒrden zum Beispiel die FahrzeugabstĂ€nde bei simulierten Spurwechseln spĂ€ter nicht stimmen. Eine Herausforderung: Da Straßen im OpenDRIVE-Format als mathematische Funktionen beschrieben sind, können Sprungstellen entstehen, die in der Simulation als „Knick“ in der Straße erscheinen wĂŒrden. Solche Punkte mĂŒssen interpoliert werden. „Der digitale Zwilling fĂ€hrt eine Strecke oft mehrere Hunderttausend Mal – da muss jedes Detail stimmen“, betont Watzl.

Zusammengefasst

Porsche Engineering arbeitet im Forschungsprojekt AVEAS mit Partnern daran, kritische Verkehrssituationen mit KI-Hilfe automatisiert in Sensordaten zu erkennen und in einer Datenbank abzulegen. Sie werden zudem variiert, um mehr TestfĂ€lle zu erzeugen. Danach werden die Szenen in eine Simulation ĂŒberfĂŒhrt und dienen dazu, Fahrerassistenzsysteme und Funktionen fĂŒr das hochautomatisierte Fahren abzusichern.

ĂŒbermittelt durch Porsche

 

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