Wie viele Burger er damals für einen Satz Reifen an seinem Gokart verkaufen musste? Neel Jani muss kurz überlegen.
Zahlen und Spielereien faszinieren ihn, seit er rechnen kann. Er sitzt mit seiner Frau Lauren im Burger-Restaurant Jack & Joey in Mantes-la-Jolie, gut 50 Kilometer nordwestlich von Paris, und erinnert sich an die Zeit, als er mit 13 Jahren im Schnellrestaurant seiner Eltern aushalf, um erst erwachsen und dann Rennfahrer zu werden. Sein letztes Rennen im Gokart fällt ihm ein: Er fährt es in Gedanken nach, sitzt Zentimeter über der Straße, sucht die Linie, bremst an, lenkt so wenig wie möglich, um das Material zu schonen. Er blickt auf, ist wieder ganz im Hier und Jetzt. Die Mittagsrast ist vorbei. Es geht weiter. Draußen wartet das neue Porsche 911 Carrera S Cabriolet.
Gestartet sind sie in Paris, ihr Ziel heißt Rouen. Sie werden für die noch knapp 90 Kilometer von Mantes-la-Jolie in die Hauptstadt der Normandie Stunden brauchen – eine ausgedehnte Reise zurück in die Zukunft, Spurensuche dort, wo vor 125 Jahren alles begann. Automobilgeschichte. Geburtsstunde des Motorsports.
Mit Neel Jani startet das neue Formel-E-Werksteam von Porsche in die im Dezember 2019 beginnende sechste Saison der weltweit ausgetragenen ABB FIA Formula E Championship. Der Schweizer, seit 2013 Porsche-Werksfahrer, ist der erste Pilot, den der Stuttgarter Sportwagenhersteller dafür verpflichtet hat, ein Mann mit Speed, Erfahrung in der Formel E und als Entwicklungsfahrer eine etablierte Größe in einem technologisch zukunftsweisenden Programm. Am Steuer des Porsche 919 Hybrid wurde er 2016 mit seinem Team Le-Mans-Gesamtsieger und FIA-Langstreckenweltmeister. Mit dem 919 erzielte der heute 35-Jährige von 2014 bis einschließlich 2017 vier Siege, neun Poles und vier schnellste Rennrunden. 2018 gelang ihm mit dem 919 Hybrid Evo im belgischen Spa-Francorchamps eine Bestzeit, mit der er Lewis Hamilton und dessen Formel-1-Streckenrekord ziemlich alt aussehen ließ.
In Frankreich gönnt sich Jani eine Auszeit von seinem anstrengenden Testprogramm – Verbindung von gestern, heute und morgen. Beginn am Boulevard Maillot im Nordwesten von Paris. Dort, wo am 22. Juli 1894 das erste Rennen der Automobilgeschichte startete: Paris – Rouen, ein „Wettbewerb für Wagen ohne Pferde“, ausgerufen von Pierre Giffard. Der Chefredakteur der Pariser Zeitung Le Petit Journal wollte demonstrieren, dass dem Automobil die Zukunft gehört. Mehr als 100 Fahrer meldeten sich an, 21 Fahrzeuge bestanden die technische Abnahme, Fahrzeuge mit Benzin-, Dampf- oder Gasmotoren, auch – ausdrücklich erwünscht – mit Elektroantrieb. Tonnenschwere Ungetüme trafen auf leichte Dreiräder; Lieferwagen und Busse auf filigrane Benzingefährte. Die 5.000 Francs Preisgeld gebührten, so die Ausschreibung, nicht dem schnellsten Fahrer, sondern demjenigen, der das ungefährlichste, am leichtesten zu bedienende und günstigste Gefährt präsentierte. Um 8:01 Uhr senkte sich die Flagge. Der Endpunkt der Zuverlässigkeitsfahrt, die Esplanade du Champ de Mars im 126 Kilometer entfernten Rouen, war zwölf Sollstunden entfernt. 17 Teilnehmer schafften es: geschunden, verstaubt, erschöpft.
„Damals ging es ums Ankommen – heute geht es um Effizienz.“ Neel Jani, Formel-E-Pilot
„Wir können uns nicht ansatzweise vorstellen, was das Rennen damals für Menschen und Material bedeutet hat“, sagt Jani. „Und heute haben wir keine Ahnung davon, wie wir uns in 125 Jahren fortbewegen.“ Sicher ist nur: „Mit Autos, wie wir sie kennen, wird das nichts mehr zu tun haben. Damals wollte man zeigen, dass ein Fahrzeug mehr als 100 Kilometer zurücklegen kann. Es ging ums Ankommen. Heute geht es um Effizienz.“
Jani startet den Motor des 911 Carrera S Cabriolets. Die exakte Route von Paris nach Rouen kann er nicht nachfahren, die aufgeschütteten Schotterpisten von 1894 sind Autobahnen und Landstraßen gewichen. Auch die enorme Kraftanstrengung dieser Wettfahrt und die mitschwingende Aufbruchstimmung lassen sich schwer erahnen, wenn man im jüngsten Elfer sitzt, der achten Generation einer Ikone, bestehend aus dem Besten aller Vorgänger und dem Innovativsten der Jetztzeit. 331 kW (450 PS; 911 Carrera S Cabriolet: Kraftstoffverbrauch kombiniert 9,1 l/100 km; CO2-Emission 208 g/km). Nur 3,7 Sekunden von 0 auf 100 km/h mit optionalem Sport Chrono-Paket. Satte 306 km/h Höchstgeschwindigkeit. Vor 125 Jahren beträgt die Durchschnittsgeschwindigkeit von Paris nach Rouen 17,5 km/h.
Erst vor wenigen Wochen ist Jani in Le Mans sein vorerst letztes Rennen in der FIA Langstreckenweltmeisterschaft (WEC) gefahren. „Wenn Porsche dir die Chance gibt, als erster Fahrer in der Geschichte der Marke für das Werksteam in der Formel E zu fahren, dann musst du Prioritäten setzen.“ Er freut sich auf die Formel E, aber der Respekt ist groß. Vor der Leistungsdichte, den handverlesenen Fahrern, den Strecken. Die Formel E findet dort statt, wo auch die Elektromobilität in Zukunft stattfinden wird: im urbanen Raum, in den Ballungszentren dieser Welt. Rennen auf den Straßen der Megacitys haben ein besonderes Flair. Sie kommen zu den Menschen, nicht umgekehrt.
Porsche ist in der nächsten Saison das einzige Team, das bei Null startet. Außerdem ist die Formel E die erste Rennserie überhaupt, für die Porsche kein komplett eigenes Auto einsetzt. Denn 80 Prozent der Bauteile eines jeden Rennwagens sind in der Formel E identisch. Eigenentwicklungen sind jedoch an sämtlichen Antriebskomponenten erlaubt – am Elektromotor, Inverter, Getriebe, an der Hinterradaufhängung oder der Software. Feinjustierung entscheidet über Sieg oder Niederlage. Und manchmal auch ein wenig Glück.
„Unser Formel-E-Rennwagen ist bereit, es geht bei maximal 15 erlaubten Testtagen und vielen Simulatorstunden nur noch um Details“, sagt Jani. Ziel ist nicht nur die perfekte Fahrzeugabstimmung, das Setup, sondern auch ein detaillierter Plan zum Energiemanagement. Die Erwartungshaltung ist hoch, Jani zuversichtlich. Ein Podiumsplatz sollte schon drin sein, findet er. Wie damals, vor drei Jahren, als er mit Romain Dumas und Marc Lieb das 24-Stunden-Rennen in Le Mans für Porsche entschied. „Du kannst Le Mans nicht gewinnen“, weiß Jani. „Le Mans lässt dich gewinnen – oder eben nicht“.
Aus elf Jahren Le Mans in Folge nimmt er viel mit in die Formel E, „vor allem Geduld“. Er fährt nach Mantes-la-Jolie, wo die Teilnehmer vor 125 Jahren ihren 90-minütigen Mittagsstopp einlegten, etwa drei Stunden nach dem Start in Paris. Lauren und Neel Jani schauen sich Fotos an. Vor ein paar Jahren auf seine Familienplanung angesprochen, sagte Jani: „Erst einmal möchte ich in Le Mans gewinnen, dann denke ich über Kinder nach“. Dann kam der Sohn. Jetzt kommt die Formel E.
Der Porsche biegt nach links auf eine kurze Schotterpiste ab. Hohe dichte Hecken versperren den Blick auf die Parkanlagen und das Schloss Bizy in Vernon in der Normandie. Die Janis sind willkommen und dürfen den Porsche 911 im Innenhof abstellen. Das Gebäude steht unter Denkmalschutz, im Volksmund wurde es früher „Klein-Versailles der Normandie“ genannt.
„Der Fahrer macht den Unterschied.“ Neel Jani
Das Ziel erreichen sie bei Einbruch der Dämmerung: Rouen, Stadt der 100 Kirchtürme, die Gotik der Kathedrale, Gassen wie im Mittelalter. Auf dem alten Markt wurde 1431 die Nationalheldin Johanna von Orléans verbrannt, ein Stein erinnert daran. Es bleibt nicht viel Zeit dafür. Zu viele Zwischenstopps, sie haben den Tag genossen, sich treiben lassen im Cabriolet, immer wieder an der Seine angehalten, eine alte Mühle besichtigt, Brücken fotografiert, beim internationalen 24-Stunden-Motorbootrennen von Rouen zugeschaut. Aber noch immer verrät Jani nicht, wie viele Hamburger er vor 22 Jahren für einen Satz Gokart-Reifen verkaufen musste. Also eine Schätzfrage: Wo wird Porsche am Ende der ersten Formel-E-Saison 2020 stehen? „In den ersten acht Rennen der laufenden Serie gab es acht verschiedene Gewinner“, sagt er. „Technisch ist so vieles gleich, der Fahrer macht den Unterschied.“ Jani steigt aus und läuft zum Springbrunnen an der Esplanade du Champ de Mars. Er dreht sich um und lächelt. „Ich bin noch nirgendwo in meinem Leben angetreten, um nicht irgendwann ganz oben auf dem Podest zu stehen.“