Näher am wirklichen Leben

Ausgefeilte Messtechnik ermöglicht den neuen Standard für realistische Verbrauchswerte

Maurizio Gualato gibt Gas. Der 26-jährige Wolfsburger bremst und schaltet gemäß Anweisung hoch und zurück. Immer wieder, hochkonzentriert. Nach einer halben Stunde hat sein silberner Volkswagen Arteon zwar exakt 23,30 Kilometer mehr auf dem Tacho. Doch Gualato ist nicht von der Stelle gekommen.

Der junge Güteprüfer und das Fahrzeug bleiben die ganze Zeit auf einem Rollenprüfstand in der Halle 79 in Wolfsburg. Auf 21 Prüfständen setzen dort Spezialisten eine kleine Revolution um. Sie testen, wieviel Sprit die neuen Modelle von Volkswagen tatsächlich verbrauchen. Und zwar nach dem erst wenige Wochen alten Europa-Standard WLTP.

Nur noch realistische Spritangaben im Katalog

Dieser neue Standard soll ein altes Ärgernis aus der Welt schaffen: Bisher sind die Verbrauchsangaben im Katalog deutlich niedriger gewesen, als die Werte, die die Kunden tatsächlich erfahren. Ursache sind die gesetzlichen Vorgaben, nach denen die Automobilhersteller ihre Zahlen bislang ermittelten. Dieser alte, sogenannte NEFZ-Standard (Neuer Europäischer Fahrzeug-Zyklus) bestand aus einem Programm, das auf einem Prüfstand abgespult wurde. Und zwar seit 1992, unverändert.

Das dabei simulierte Fahrverhalten hatte allerdings wenig mit dem tatsächlichen Betrieb eines Autos zu tun. So lief der Motor zum Beispiel ein Viertel der Zeit im Leerlauf und die Höchstgeschwindigkeit stieg nie über 120 Kilometer pro Stunde. Diese, gemäß NEFZ ermittelten Theoriewerte standen dann in den Katalogen. Mit den Praxis-Erfahrungen der Kunden hatten sie aber wenig zu tun.

Seit 1. September 2017 gilt nun für die Verbrauchsangaben in Europa ein neuer Standard, der sogenannte WLTP. Die vier Buchstaben stehen für „Worldwide harmonized Light vehicles Test Procedure”. Damit soll der Spritverbrauch von Neufahrzeugen realistisch und vergleichbar werden – über Marken und Modelle hinweg. Für Hersteller wie Volkswagen bedeutet dieser Wechsel große Veränderungen auf vielen Ebenen und in zahlreichen Abteilungen.

Überstunden auf dem Rollenprüfstand

Auch die Kunden müssen sich umstellen, denn die neuen Werte nach WLTP werden höher ausfallen als bisher. Dafür sie bringen auch mehr Klarheit: „Das Fahrprofil bildet nun tatsächlich echtes Fahren ab”, sagt Christoph Kohnen, Leiter Gesetzgebung Abgas und Verbrauch bei Volkswagen. Dafür sei über Jahre und Ländergrenzen hinweg eine Prozedur entwickelt worden, die hunderte Seiten umfasst. Sie wird stufenweise umgesetzt. Das komplette Programm des WLPT wird im September 2018 in Kraft treten.

Im Gebäude 79, etwas nördlich des Hauptwerks in Wolfsburg, bringt die Umstellung besonders viel Zusatzarbeit. „Künftig ermitteln wir für jede Motor-Getriebe-Variante einen eigenen Verbrauchswert”, erklärt Jan Dössing, der Projektleiter WLTP. Maurizio Gualato und seine Kollegen spulen ihr festgeschriebenes Fahrprogramm deshalb fast rund um die Uhr ab. „Pro Tag fahren wir hier 250 Tests”, präzisiert Richard Preuß, der Leiter der Fahrzeugrollenprüfstände.

Das sind im Jahr rund 55.000 Durchläufe – und es werden wohl noch mehr. Nach dem WLTP-Regelwerk müssen auch die Auswirkungen der Fahrzeug-Ausstattung gemessen werden: Leichtlauf-Reifen oder breite 18-Zöller, Klimaanlage und Schiebedach – solche Extras bewirken Unterschiede beim Spritverbrauch. Autofahrer wissen das. Doch bislang fehlten solche Details in den Katalogangaben. In Zukunft fließen sie in die Ermittlung des Verbrauchswertes ein.

Eine Software für die Auswirkungen der Sonderausstattung

„Wir haben rund 300 unterschiedliche Teilenummern allein für aerodynamikrelevante Teile, deren Wirkung wir berücksichtigen müssen”, erläutert Dössing die Komplexität der Aufgabe. Daher ist es unmöglich, sämtliche Kombinationen für jede Motorvariante zu messen. Alleine für den Golf gibt es extrem viele von Möglichkeiten, Ausstattung und Technik zu kombinieren. Deshalb hat Volkswagen eine eigene IT-Lösung erarbeitet. Diese Software kennt die Auswirkung der einzelnen Ausstattungen auf den Verbrauch und kombiniert diese mit Messwerten vom Prüfstand.

Die einfach klingende Lösung ist tatsächlich sehr anspruchsvoll. „Am Online-Konfigurator funktioniert sie in Echtzeit”, zeigt sich Wolfgang Frank begeistert. Er betreut das WLTP-Projekt für den Bereich Vertrieb. Wenn sich ein Kunde sein Wunschmodell am Computer oder im Autohaus zusammenstellt, wird ihm der exakte Verbrauch nach WLTP für diese Konfiguration ermittelt. So kann er leichter entscheiden: Breitreifen und Mehrverbrauch – oder doch lieber einen kleineren Motor?

Solche Fragen dürften wichtiger werden, denn die Kfz-Steuer wird nach Verbrauch ermittelt. Bislang geschieht das ziemlich pauschal für ein Modell-unabhängig von dessen Gewicht oder Ausstattung. Der WLTP aber ermöglicht individuelle Verbrauchsangabe und damit auch Besteuerungen. Volkswagen führt die Methode derzeit beim up! GTI ein, dem jüngsten Modell der Marke. Das neue Verfahren ist also transparent und gilt für alle Hersteller.

Künftig wird auch auf der Straße gemessen

Neben dem Spritverbrauch regelt das neue Gesetz zudem die Menge der an die Umwelt abgegebenen Schadstoffe. Neuwagen müssen diese Grenzwerte nicht nur im Labor, sondern auch im Alltagsbetrieb einhalten. Deshalb praktizieren die Tester aus Halle 79 seit September eine weitere Neuerung, den sogenannten RDE-Test (Real Driving Emissions).

Dazu laden sie den Fahrzeugen regelmäßig mobile Messgeräte auf.

Kraftstoffverbrauch Golf TDI 110 kW / 150 PS in l/100 km: kombiniert 4,3-4,2 / innerorts 5,1-5,0 / außerorts 3,8-3,7; CO2-Emission kombiniert in g/km: 111-109; Effizienzklasse: A.

Die gelbe Kiste am Fahrzeugheck registriert die Menge der Stickoxide und Rußpartikel aus dem Auspuff. Dazu wird der Wagen rund zwei Stunden über Landstraßen und Autobahnen sowie im Stadtverkehr gefahren.

Derzeit gilt: Während dieses „echten” Betriebes dürfen die Emissionen noch rund doppelt so hoch ausfallen wie auf dem Prüfstand. Bis 2020 müssen die Emissionen auf dem Prüfstand und während der RDE-Messung auf der Straße bis auf eine Messtoleranz identisch sein.

Zudem ist jede Fahrt anders, und jeder Tester hat sein individuelles Fahrverhalten. Damit sind die RDE-Ergebnisse zwar nicht miteinander vergleichbar. Die Grenzwerte müssen dennoch während jeder Fahrt eingehalten werden. Das überprüfen auch unabhängige technische Dienste wie der TÜV. Er ist regelmäßig zu Gast in Halle 79 und kontrolliert die Messergebnisse.

Dabei schneidet Volkswagen im Vergleich zu den Wettbewerbern übrigens hervorragend ab: Im Eco-Test des ADAC produzierten die Diesel-Modelle mit Euro-6-Motoren im Schnitt 146 Milligramm Stickoxide pro Kilometer. Fast sämtliche anderen Hersteller erreichten schlechtere Werte.

 

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